Auszüge aus unserer Chronik, erschienen anlässlich zum 125. Jubiläum im Jahr 2013.
Wie ist die Gemeinde in Herold entstanden?
Etwas abseits der Wirtschaftsadern gelegen, erlebte Herold mit zunehmender Industrialisierung des Tales der Wilisch doch einen enormen Aufschwung. Seit 1864 im Besitz einer eigenen Kirche mit ständigem Pfarrer, verstärkte sich das geistliche Leben. Besonders der von 1879-1884 in Herold weilende Pfarrer Georg Heinrich Friedlein trug hierzu wesentlich bei. Durch Bibelstunden in den Wohnungen ernsthafter Christen an den Sonntagabenden entstanden Konventikel, die heute Hauskreise genannt würden. Gläubige oder interessierte Menschen führte das Verlangen zusammen, tiefer in das Verstehen der Heiligen Schrift einzudringen. Oberflächliche Christlichkeit befriedigte sie nicht. Ein “Hunger” nach vertiefter Gottesgemeinschaft bewegte sie. In jenen Jahren ging durch ganz Deutschland ein Erwachen und ein Suchen nach Gott.
Der Kreis im Hause des Julius Decker sollte die “Keimzelle” für die Entwicklung sein, die zum Entstehen der Brüdergemeinde in Herold führte. Obschon die Mehrzahl als Bauern oder Arbeiter lebte, versammelten sich zu den “Stunden” auch Pfarrer und Lehrer.
Pfarrer Stichel (1884-1895), Nachfolger von Pfarrer Friedlein, löste die Hauskreise auf. Dazu sei die Kirche da und zusätzliche Zusammenkünfte überflüssig. Die von ihm gestellten Weichen führten aus der Kirche hinaus. Zunächst schlossen sich die Herolder Geschwister aus dem Decker´schen Hauskreis eng an die Thumer und Jahnsbacher Konventikel an. Zu ihnen gehörte inzwischen ein Mann, der für den weiteren Gang von Bedeutung sein sollte: Bruder Karl Reuther.
Gläubig geworden fand er Anschluss an jenen Hauskreis. Einige Zeit nach dessen Auflösung, in unruhevollem Fragen nach weiterer Wegführung, erreichten ihn Schriften der noch jungen Brüderbewegung. Die tiefe Frömmigkeit atmenden Beiträge beeinflussten ihn nachhaltig und führten ihn in deren besondere An-sichten ein. Durch ihn verbreiteten sich diese in den ihm bekannten Kreisen und fanden ungeteilt Zustimmung. Jetzt sammelten sich Gläubige aus der ganzen Umgebung in seinem Haus in Herold. Für die bisher hier unbekannte Brüderbewegung war eine Bahn gebrochen. Ins Jahr 1888 datiert das erste Brotbrechen in der entstandenen Herolder Gemeinde. Austritte aus der Kirche erregten damals enormes Aufsehen und zogen beständig Verachtung nach sich. Doch trotz einiger Widerstände, schreckten sie vor den Konsequenzen der gewonnenen, ihnen überaus wertvollen Einsichten in neutestamentliche Lebens- und Gemeindeverhältnisse, nicht zurück. Intensive Verkündigung mit dem Schwerpunkt “Bekehrung zu Gott mit ganzem Herzen” brachte Früchte. Die Hauskreise von Thum und Jahnsbach versammelten sich nun mit in Herold zum “Forschen in der Schrift” und gewannen dazu Verwandte, Bekannte, Nachbarn und Arbeitskollegen. Nicht lange blieb so mancher nur unbeteiligter Zuhörer. Unter entscheidungsorıentierter, persönlicher Verkündigung trafen viele ihre Entscheidung für ein Leben mit Gott.
Außerhalb der Staatskirche
Das bewusste persönliche Hören des biblischen Wortes, also schlicht und einfach wie es geschrieben steht, und der Wunsch, die so gewonnenen Erkenntnisse auszuleben, führte die ersten Geschwister recht bald in den Gegensatz zu Lehre und Praxis der damaligen Staatskirche. Besonders deutlich wurde der Widerspruch durch ihre Sicht der Taufe als Gläubigen-Taufe, des Abendmahls (“Brotbrechen”) als Gedächtnismahl und ihrem Verständnis vom “allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“, d.h. dass es keinen Unterschied zwischen Amtsträgern und Laien gibt, sondern dass alle Gläubigen aufgrund ihrer göttlichen Berufung und Begabung gleich berechtigt und gleich verpflichtet sind. Kirchenaustritte waren die Folge. Trennungen sind immer schmerzlich für beide Seiten. Verlor doch die Kirchgemeinde einen Teil ihres geistlichen Kerns und wurden die Geschwister ihrerseits zu Außenseitern. Nachbarn, Kollegen, Freunde, Verwandte und sogar Familienglieder standen plötzlich “auf der anderen Seite”. Die Geschwister wurden als “Dissidenten” (jemand, der keiner staatlich anerkann-ten Religionsgemeinschaft angehört) bezeichnet. Das bedeutete für sie, Gezeichnete, Beschimpfte und Verachtete zu sein. Besonders bedrückend erlebten in jenen Jahren die schulpflichtigen Kinder und deren Eltern, was es hieß, außerhalb der Staatskirche zu stehen. Waren doch Schule und Kirche aufs engste verbunden, der Kantor zugleich Schulleiter. Aber nicht nur der Einzelne stand außerhalb, sondern auch die Gemeinde als Ganzes wurde angegriffen. Sie durfte sich nicht zur Zeit kirchlicher Gottesdienste und Veranstaltungen versammeln. Die Zusammenkünfte mussten ständig gemeldet werden und wurden überwacht. Dabei kam es besonders in den 1890er Jahren zu Problemen mit Polizei, Gerichtsbarkeit und anderen Staatsorganen. Höhepunkt war eine gegen die Gemeinde gerichtete Klage des Amtshauptmannes von Annaberg beim sächsischen Oberlandesgericht in Dresden. Darum reisten die Brüder Karl Reuther, Friedrich Metzler und Robert Oelmann zu Verhandlungen nach Dresden. Als Resultat erlangten sie Versammlungsfreiheit. Damit lösten sich aber nur die wichtigsten Probleme. Als “Dissidenten” galten die Geschwister weiterhin, bis in die Zeit der Weimarer Republik. Trotz Druck und Anfeindung wuchs die Gemeinde. Ein Phänomen, das uns die gesamte Kirchengeschichte zeigt. Anziehend war die schlichte, aber überzeugende Art, das Wort der Bibel auszuleben. Dazu musste man zuerst die Bibel studieren. Das geschah besonders in den Familien. So wurden die Kinder frühzeitig mit dem Wort Gottes vertraut, Verwandte, Hausbewohner und Nachbarn hörten es. Persönliches Zeugnis in Familie, Haus, Nachbarschaft und bei der Arbeit war das “Missionsprinzip“ der ersten Geschwister. Sie hatten offene Häuser, Herzen und Hände füreinander und besonders für alle Bedürftigen und Suchenden.
Der Gemeindesaal
Das Haus von Bruder Karl Reuther (heutige Straße der Einheit 13) fasste die vielen Geschwister nicht mehr. Eine jüngere Schwester der Gemeinde, Minna Metzler, kaufte ein Grundstück und stellte auch weitere Mittel zur Verfügung, so dass 1894 der heute noch genutzte Saal erbaut werden konnte. Damit entstand der erste größere Versammlungsraum der Brüdergemeinden in Sachsen und diente deshalb bis 1900 für Konferenzen der ostsächsischen Gemeinden. Nach ihrer Eheschließung verkaufte sie das gesamte Anwesen an ein Gemeindeglied, dem Bäckermeister Emil Heim. Obwohl die Gemeinde stets nur Mieter war, kam sie für den Unterhalt des Saalgebäudes selbst auf. Dieser Saal bot günstige Möglichkeiten für die Gemeindearbeit in Herold und Umgebung.
Schwere Zeiten
Dann brachen zwei Weltkriege mit all ihren Schrecken herein. Am schwersten war die Zeit des Faschismus. Der nationalsozialistische Ungeist griff nach allen inneren Werten des Menschen. Die Gemeinden waren in jener Zeit Oasen, wo man das frische Wasser des Wortes der Wahrheit, Gemeinschaft und Vertrauen fand. Schwer traf sie deshalb das Verbot der “Christlichen Versammlung” vom 28. April 1937 durch den Reichsführer SS, Himmler. Für die Brüdergemeinden insgesamt kam dieses Ereignis unerwartet. Lebte doch die Gemeinde bewusst abseits der “Welt”, mied alles “weltliche”, Politik und kulturelles Leben eingeschlossen, und war (einseitig) nur auf Glaubensdinge bedacht. Man schätzte sich deshalb als “neutral” ein. Aber für die Nationalsozialisten bedeutete Neutralität schon Gegnerschaft. Dazu kam, sicher als Hauptgrund des Verbots, die nicht vorhandene (überörtliche) Organisation der Brüdergemeinden, denen von jeher die Selbständigkeit der Ortsgemeinde und die freie Gestaltung des Gemeindelebens als wichtige Prinzipien galten. So konnte man diese “Sekte” nicht “gleichschalten“, sie war “undurchsichtig”, “undeutsch“ und damit “volks- und staatsgefährlich”. Die Brüder schufen entsprechend den Forderungen der Gestapo schnell eine übersichtliche Organisation, wie sie ja bei anderen Kirchen und Freikirchen längst bestand. Deshalb konnten sie sich unter dem neuem Namen “Bund freikirchlicher Christen” (BfC) bald wieder versammeln. Allerdings nicht wie bisher, denn eine Reihe diskriminierender Vorschriften (z.B. Meldepflicht jüdischer Besucher, Rednerlisten) wurde ihnen auferlegt. Diese Entwicklung bedingte, dass sich die Brüder über Orts- und Gemeindegrenzen hinaus suchten, um dem faschistischen Staat als größere Gruppe gegenüber zu stehen und nicht jeder Willkür ausgeliefert zu sein. Natürlich kam man sich durch diese Kontakte auch geistlich näher. In einmaliger Weise fanden Brüder und Gemeinden bisher getrennter “Richtungen” der Brüderbewegung zueinander. Dem BfC – der im wesentlichen aus sogenannten “Elberfelder Brüdern” bestand – schlossen sich Ende 1937 die “Offenen Brüder” – der offizielle Name war “Kirchenfreie christliche Gemeinden” (KCG) – an.
1941 entstand der “Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden” aus dem Bund der Baptisten-gemeinden (mit Elimgemeinden) und dem BfC. All diese Ereignisse betrafen und bewegten auch unsere Gemeinde in Herold. Bruder Alban Decker, ein im ganzen Erzgebirge sehr geschätzter Bruder, der sich von jeher um den Aufbau der Gemeinden gemüht hatte, stand in jenen Jahren an der Spitze der Gemeinde. Der Herr hat ihm viel Gnade geschenkt, um mit Weisheit und Umsicht diesen verantwortungsvollen und damals zum Teil gefährlichen Dienst zu tun. In den Jahren nach 1941 wurde, genau wie das allgemeine Leben, auch das Gemeindeleben immer schwieriger. Besonders die Brüder fehlten. Sie waren an der Front oder gefallen. Vielerorts gab es beschädigte, zerstörte oder – wie in Herold – beschlagnahmte Gemeinderäume. 1944 wurde der Gemeindesaal in eine Unterkunft für Arbeiter der Rüstungsindustrie umfunktioniert. Damit war die Gemeinde heimatlos. Dennoch, die Geschwister kamen zusammen! Und zwar in der Backstube vom “Heim-Bäck”. So gab es in mancherlei Beziehung mit Kriegsende ein großes Aufatmen.
Große Möglichkeiten
Das Gemeindeleben der ersten Jahre nach dem Krieg ist von vielen Zusammenkünften geprägt, besonders der Jugend. Aus dieser Zeit stammen die “Jugendtreffen”. Die Brüder Willy Decker (Herold) und Emil Reichelt (Sehma) nahmen sich der jungen Leute besonders an. Freimütig wurde über alles gesprochen und vor allem eifrig in der Heiligen Schrift geforscht. Die 1960 begonnene Bibelschularbeit in Burgstädt erlangte unter den neuen Bedingungen große Bedeutung. Einer der ersten Bibelschüler, Bruder Johannes Decker, sorgte für eine enge Verbindung zwischen Bibelschule und Herolder Gemeinde. Weitere unserer Brüder besuchten die Bibelschule und Bibelschullehrer hielten Abendlehrgänge in der Gemeinde. Daraus entstand später die “Thumer Woche”. 1963 konnten die Brüdergemeinden im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden mit Kinderrüstzeiten beginnen. Von Anfang an arbeiteten in den Rüsten und Werken Geschwister von uns mit. 1968 war dann Herold selbst Gastgeber einer Jugendrüstzeit. Um die Bedingungen für diese, wie für die gesamte Gemeindearbeit zu verbessern, beschlossen die Brüder 1966 umfangreiche Bau- und Werterhaltungsmaßnahmen. Die Geschwister brachten alle finanziellen Mittel auf und führten die Arbeiten in Eigenleistung aus (1967/68 und 1973/74). Seit 1971 fanden regelmäßig bezirkliche Jugendtage statt und auch Schwesterntage und Chorrüsten. 1981 begann die Jugendgruppe der Gemeinde mit “Offenen Abenden”. So stellten sich die Geschwister bewusst der Herausforderung hier und heute als Gemeinde zu leben und in Zeugnis und Dienst ihren Auftrag zu erfüllen. Durch die Gnade und den Segen Gottes wurde Gemeindearbeit in so großem Umfang und solcher Breite möglich, wie nie in der Vergangenheit.
Der Umbau
Am 01. März 1988, also quasi zu unserem 100jährigen Gemeindebestehen, konnten wir das Grundstück mit allen Immobilien kaufen. Bis dahin nutzten wir die Gemeinderäume als Mieter. Bauliche Veränderungen waren nötig, weil die bestehende Bausubstanz, wie auch die weiter gewachsene, eigentliche Gemeindearbeit dies erforderte.
Dafür wurden Projektierungsleistungen vorgenommen. Ein neuer Heizraum mit Kohlebunker sollte entstehen, für Rüstzeiten benötigten wir eine Küche und entsprechende Nebenräume. Ein größerer Jugendraum war dringend nötig. Aber auch der Saal sollte vergrößert und saniert werden. Das Kreisbauamt erteilte uns dankbarerweise schnell eine Genehmigung, allerdings ohne Materialzuteilung. Bäume mussten selbst gefällt werden, ein Drittel für Bauholz, zwei Drittel für den Staat. Ein Bruder aus der Lausitz besorgte zwei Waggon Ziegelsteine. So begannen die Vorbereitungen und Gründungsarbeiten für das Fundament einer Erweiterung. Mitten in dieser Zeit schenkte uns unser großer, allmächtiger Gott die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands. Eine spannende und besondere Zeit nicht nur für unser Bauvorhaben.
Aber auch da bewies sich unser Gott als besonders gnädig und schenkte Wege: Bruder Matthias Wolf und zwei weitere Maurer konnten über Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen (ABM) von der Gemeinde angestellt werden, Zivildienst durfte geleistet werden, Baufirmen suchten nach Arbeit und unser Rohbau konnte schnell und preiswert erstehen. Neue Materialien und Möglichkeiten für den Innenausbau wurden genutzt. Gott gab Bewahrung und Gelingen. So konnte 1995 auch das Wohnhaus von Grund auf renoviert werden. Bei allen baulichen Veränderungen und auch bei der Vergabe der Wohnungen konnten wir erfahren, dass die gute Hand Gottes über uns war.